Leben


Ein leichter Hauch des Windes streicht zitternd über das Laub. Ein Rascheln ertönt, dann schweigt der Wald wieder. Der Frost knirscht, das Moos erscheint in einem einförmigen Grau.
Auf einem einsamen Pfad, ausgetreten und schmal, von weißem Nebel, gesäumt, tritt ein Reh von zierlicher Gestalt heran, es kommt die Angst, dies Wesen könne zerbrechen in der Kälte. Würde es fallen, der weiße, dicke Watteteppich würde es bedecken und verbergen. Doch Hufe gleiten nicht, das erhobene stolze Haupt wankt nicht. In graziöser, engelsgleicher Weise huscht es durch die kalte leblose Welt. Die bernsteinfarbenen warmen Augen sind der einzige Trost in dieser Einöde.

Doch dann entschwindet die zierliche leichtfüßige Gestalt, der Nebel schlüpft zwischen die Kleider, gleitet um den Hals und zerrt an den Haaren. Grauen überfällt mich, die Angst packt mich, ich springe auf und haste durch den sumpfdurchsetzten, heimtückischen Wald. In Panik blicke ich mich um, schleichende Tritte ertönen lauernd hinter mir im Gebüsch. Ich haste weiter, fliehe, und doch gerate ich immer mehr in die Wirren des Waldes.
Schließlich sinke ich nieder und schließe die Augen. Ich höre das Aufstampfen eines wilden Tieres. Ich wage nicht, aufzublicken; da spüre ich einen Hauch von Sonne. Ich erhebe mein Gesicht, und zwischen den kahlen Bäumen kommt schemenhaft das Reh zwischen den Nebelschwaden zum Vorschein, so königlich und stolz. Der Gedanke geht in meinem Kopf umher, warum es hier ist, an diesem schauerhaften Ort, warum es nicht im Licht weilt, an der Sonne, bei klaren stillen Wassern und den grünen Weiden.

Da teilt sich das steifgefrorene Gebüsch, und ein Getier von riesenhafter Gestalt erhebt sich und entblößt ein fürchterliches Gebiß. Das gewaltige, orkanartige Brüllen läßt mich entsetzen und erschauern, und ich werfe mich zu Boden, unter der Erde Schutz suchend, doch der Erdboden nimmt mich nicht auf und verschlingt mich nicht, er stößt mich ab in der Not. - Dann erhebt sich die Bestie auf die Hinterbeine, um auf mich zuzustürzen. Ich beuge mein Haupt und gebe mich auf, da plötzlich wirft sich das Reh, gleich einem mächtigen Löwen, die kleinen Hörner vorgestreckt, zwischen mich und das tobende Tier, das aufschreit, das zierliche Geschöpf mit den mächtigen, krallenbewehrten Pranken packt und umschließt und schauderhaft brüllt. Das fragile Reh, das zarte Himmelsgeschöpf, liegt zerschmettert in den Armen der Bestie, die sich wendet und durch den grauen Wald davonstürmt. Lange Sekunden höre ich das Brechen von Ästen, das gräßliche Gebrüll des Tieres. Dann ist es still.

Ich lasse mich in das feuchte Moos fallen und weine bitterlich. Dann stehe ich auf und irre umher durch das neblige, trostlose Gehölz, suchend und nicht wissend, wonach.
Da erblickt mein ermattetes Auge einen kleinen Vogel, einen winzigen nur, fast zu klein, und doch ist er nicht zu übersehen. Schillernd und gleißend wie ein heller Edelstein in diesem weißen, drückenden Nebel sitzt er regungslos auf einem Ast. Er ist stumm, doch er erhebt sich leise sirrend und fliegt langsam davon. Ich klammere mich an diesen letzten Zweig und folge ihm. So gehe ich bald hierhin, bald dorthin, lange und auf verschlungenen Wegen.

Einmal verliere ich ihn aus den Augen und finde ihn nicht wieder. Da schreie ich auf, da ich nun mein letztes Kleinod, meine letzte winzige Hoffnung verloren habe, den letzten Trost. Ich sehne mich nach diesem kleinen Farbpunkt, der immer vor mir hergefolgen ist, die einzige Farbe in diesem düsteren, grauen Wald.
Da streicht's mir sacht im Haar, ich blicke auf und sehe ihn wieder, größer als zuvor.Ich folge ich abermals, und plötzlich sehe ich Licht. Ein wenig nur, doch genug, um es deutlich zu erkennen. Ich juble und renne, es ist wie kühles Wasser auf eine ausgedörrte Zunge, wie eine herrliche üppige Mahlzeit und frische Früchte für einen ausgehungerten Magen. Mit jedem Schritt nimmt das Licht zu und beginnt, mein Innerstes zu erfüllen. Da bermerke ich, daß das Kleinod, der schillernde winzige Vogel, gewachsen ist wie zu einem Adler, mächtig und stark, groß genug, um mich vor allen Gefahren zu beschützen.

Und dann, von einer Sekunde zur anderen, im Zeitraum eines Wimpernschlages, stehe ich im gleißenden Licht, wie wenn ich vom Dunkel ins Helle getreten wäre. Das grüne Gras unter meinen müden Füßen trieft und strotzt vor Glück, die Bäume, reich beladen mit Früchten aller Art, jauchzen laut.

Und an einem schattigen See, umkränzt von zarten Rosensträuchern, verhüllt in lieblichem Duft, steht das Reh, schöner und anmutiger als zuvor, und blickt in das ruhige, glatte und klare Wasser. Denn dort unten, in tiefster Tiefe, wo die Nacht ewig andauert, liegt die Bestie, angekettet, gefangen und wehrlos.


Gomeck, 24.04.94